Annalena Baerbocks Stuttgarter Rede zu Europa

Verantwortung in schwierigen Zeiten übernehmen

Stuttgarter Rede zu Europa von Außenministerin Annalena Baerbock

16.02.2023

 

Vor 70 Jahren, an Weihnachten 1952, kamen auf einem Sportplatz nicht weit von hier, in Ludwigsburg, zwei Dutzend Teenager zusammen – um Fußball zu spielen. Die Spieler waren keine Profis. Es gab keine Übertragung im Radio oder Fernsehen. Und den Gewinnern winkte auch kein Pokal und keine Siegerprämie.

Das klingt ziemlich unspektakulär – so wie manche heute in der F-Jugend oder in der Kreisliga zum Sonntagskick gehen. Aber dieses Fußballspiel war historisch. Es war alles andere als selbstverständlich. Und vermutlich hat keiner, der dabei war, dieses Spiel je vergessen. Denn diese Partie, zwischen den Jugendmannschaften der Sportvereinigung 07 Ludwigsburg und des FC Sochaux-Montbéliard, war nicht irgendein Freundschaftsspiel. Sie war das erste Fußballspiel zwischen einer deutschen und einer französischen Mannschaft nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf deutschem Boden – das jedenfalls haben Historikerinnen und Historiker recherchiert. 

Was dieses Fußballspiel damals, sieben Jahre nach Kriegsende, bedeutete – das kann man sich heute glaube ich kaum vorstellen: Einige französische Väter hatten im Krieg als Soldaten gekämpft, gegen Deutsche. Einige von ihnen wollten deswegen ihre Söhne erst nicht zum Fußballspielen nach Deutschland reisen lassen – man muss sagen verständlicherweise. Denn Deutschland war das Land, das nur wenige Jahre zuvor ihre Heimat mit einem mörderischen Krieg überzogen hatte. Das Land, das dafür verantwortlich war, dass in jeder Familie dort Menschen gestorben waren.

Aber damals gab es Menschen auf beiden Seiten der Grenze, insbesondere in Frankreich, Fußballtrainer, Bürgermeister, Eltern, Kinder, die gesagt haben: Wir machen das jetzt. Wir machen das trotzdem. Weil wir Frieden und Versöhnung wollen – und weil manche vielleicht auch einfach nur Fußball spielen wollten. Dieses Fußballspiel war, zwischen Deutschland und Frankreich, mitten in Europa, eben so viel mehr. Sie haben es organisiert, weil sie menschlich waren, weil sie zusammenkommen wollten, sich kennenlernen wollten – erst einmal nur auf einem Fußballplatz.

Es war damals, im Dezember 1952, übrigens so, dass der Oberbürgermeister von Ludwigsburg die französische Gastmannschaft nach Ankunft nicht begrüßen konnte, weil er krank war. Deswegen sprang der damalige Direktor des Deutsch-Französischen Instituts ein und hieß die jungen Franzosen willkommen. Ich erzähle das, weil das Institut dieses Jahr sein 75-jähriges Gründungsjubiläum feiert. Und vom DFI ist heute Abend Frau Keller hier mit dabei – herzlich willkommen und herzliche Gratulation zu Ihrem 75-jährigen Jubiläum!

Wir alle, in Deutschland, Frankreich und in ganz Europa, haben es auch diesem Fußballspiel zu verdanken, dass wir heute hier gemeinsam sind. Wir verdanken es Menschen, die in ihren Gemeinden und Vereinen, in ihren Parlamenten und Regierungen, die gegen Widerstände für Aussöhnung gekämpft haben. Aussöhnung fiel nicht vom Himmel. Unser gemeinsames Europa fiel nicht vom Himmel. Sondern es wurde gebaut.

Ihr seid „die Meister des Lebens und der Zukunft“. Diesen Satz rief Präsident Charles de Gaulle damals Deutschlands jungen Frauen und Männern zu – 1962, auch in Ludwigsburg, in seiner berühmten Rede an die deutsche Jugend. Da war natürlich eine ordentliche Portion de Gaulle‘scher Pathos dabei. Aber ich denke: So viele Menschen haben damals genau das bewiesen – sie haben diesen Satz mit Leben gefüllt. Sie hatten den Mut anzupacken, trotz aller Zweifel und Schwierigkeiten, um Europa, um ihr Europa, um ihre Zukunft zum Besseren zu verändern – als Meisterinnen des Lebens und der Zukunft unseres Kontinents.

Ihrem Mut verdanken wir es, dass mit Frankreich unser wichtigster Nachbar heute zugleich unsere beste Freundin geworden ist. Und ihr Herzblut war es, das aus einem Kontinent der Gewalt nach 1945 ein neues Europa gemacht hat: Einen Kontinent des Friedens und der Freiheit.

Ich erzähle diese Geschichte der jungen 22 Fußballer aus dem Jahr 1952 und ich erwähne die Rede de Gaulles zehn Jahre später nicht, weil das so schöne Anekdoten oder romantische Erinnerungen an die Anfangstage der deutsch-französischen Versöhnung sind. Sondern weil ich in meiner Rolle als Außenministerin so viel mit unserer Vergangenheit konfrontiert werde. Und immer spüre, was das für eine Verantwortung ist – und welche Lehren wir daraus ziehen.

Und für mich ist die wichtigste Lehre aus der deutsch-französischen Aussöhnung, dass sie nicht vom Himmel gefallen ist. Sondern dass damals alle Beteiligten gegen Skepsis und Widerstand von Eltern, Fußballtrainern, Nachbarn, Mitschülern und vor allem gegen eine skeptische Öffentlichkeit etwas getan haben, weil sie selbst es für richtig hielten, weil es ihre Überzeugung war. Wenn sie sich damals nur nach der sogenannten vorherrschenden „Stimmung“ gerichtet hätten – oder heute würde man sagen nach „Likes“ – und das der Maßstab gewesen wäre, dann hätte es wohl weder dieses Fußballspiel, noch den Elysée-Vertrag und erst recht nicht die europäische Einigung gegeben.

In einer Demokratie geht alle Politik von den Bürgerinnen und Bürgern aus – das ist ihr Kern. Aber gleichzeitig ist es die Aufgabe von Politikerinnen und Politikern in einer Demokratie nicht einfach nur, der vorherrschenden Meinung hinterherzulaufen, ihr nach dem Mund zu reden. Nein, ihre Aufgabe ist es, Mehrheiten zu schaffen für das, was aus ihrer Sicht richtig im Angesicht ihrer Verantwortung ist – gerade auch wenn das Mut und die Überwindung braucht, um dann für Mehrheiten zu sorgen.

Das galt nach 1945, als mutige Menschen in Europa die Fundamente der Europäischen Einigung legten – und das gilt auch heute, wenn wir über unseren Frieden in Europa reden. Wir leben heute in einer schwierigen Zeit, die wir uns nicht ausgesucht haben. Wir sind vor einem Jahr in einer anderen Welt aufgewacht. Aber es ist unsere Welt. Es ist unsere Zeit. Und damit auch unsere Verantwortung.

Ich habe im letzten Jahr als Außenministerin, in diesem Jahr eines furchtbaren Krieges, an vielen Orten Europas, insbesondere in Osteuropa, viele Zeitzeugen getroffen, die den Zweiten Weltkrieg selbst erlebt haben. Und den eindringlichsten Appell habe ich in Warschau auf einem Friedhof erlebt. Da hat mir eine ältere Dame gesagt: Frau Baerbock, fragen Sie nicht nach meinen Erfahrungen als Zeitzeugin – Sie sind jetzt die Zeugin Ihrer Zeit. Sie werden irgendwann gefragt werden: Was haben Sie getan? Aber eben auch im Zweifel: Was haben Sie nicht getan? Davon handelt unsere Verantwortung in diesen schwierigen Momenten. Die Generation nach 1945 hatte den Mut, das zu tun was sie für richtig befand, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen – und ihr verdanken wir heute unser friedliches und freies Europa.

Niemandem ist dieses Europa wohl mehr zur Heimat geworden als Ihnen hier in Baden-Württemberg. Lieber Herr Ministerpräsident, lieber Winfried Kretschmann, ganz zurecht nennt Ihr Euch das Bundesland „im Herzen Europas“ – wobei ich sagen muss: das tun wir in Brandenburg auch. Aber das ist das Schöne: unser Europa ist gewachsen – und damit auch unser Herz größer geworden.

Wo früher Schlagbäume und Grenzbeamte standen, fährt bei Euch heute die Straßenbahn von Kehl nach Straßburg im 10-Minuten-Takt. Der TGV vom Stuttgarter Hauptbahnhof zum Gare de l’Est in Paris braucht nur 3 Stunden und 10 Minuten – und zum Glück kann ich – auch als Vertreterin der Bundesregierung – sagen, dass bald ab 2024 auch eine direkte ICE-Verbindung zwischen Paris und Berlin möglich wird.

Europa aus vollem Herzen leben – das habt Ihr auch im Frühjahr 2020 getan, als Euch Eure französischen Freunde auf der anderen Seite der Grenze angerufen und erzählt haben, wie viele schwerkrankte Corona-Patienten auf ihren Intensivstationen liegen – und dass sie damit nicht mehr umgehen konnten. Und genau das ist Europa: Dass Ihr, dass Du, lieber Winfried, auf der anderen Seite der Telefonleitung gesagt habt: Dann kommen sie zu uns.  

Diese Solidarität zeichnet Euch aus – sie zeichnet unser gemeinsames Europa aus. Und diese Solidarität – und da sind wir dankbar als Außenministerin, als Ministerpräsident, als Oberbürgermeister – sehen wir seit einem Jahr auch in den Dörfern und Städten, in den Kitas und Schulen – wenn dort Kinder, Frauen und einige Männer aus der Ukraine bei Ihnen, bei uns aufgenommen werden.

Ich denke an die Freiburgerinnen und Freiburger, die den Menschen in ihrer Partnerstadt Lwiw beistehen – mit Notstromaggregaten, Betten, Batterien und immer wieder Geldspenden. Ich denke ebenso an die mehr als 150.000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die hier in Baden-Württemberg leben und von denen viele mittlerweile hier arbeiten, die hier in die Kita oder in die Schule gehen – obwohl Kita- und Schulplätze ohnehin knapp sind.  

Aber für uns, für Euch, für Sie war es eine Selbstverständlichkeit, in einem Moment, in dem man sich entscheiden muss auf welcher Seite man steht, deutlich zu machen: Wir stehen auf der Seite von Menschen, die vor Krieg, Bomben und Terror nach Deutschland geflohen sind. Denn auch das ist unsere europäische Verantwortung.

Wie kostbar dieses Europa ist – das ist wahrscheinlich vielen bei uns hier in Deutschland erst in den vergangenen 12 Monaten wirklich klargeworden. Sie haben es eingangs gesagt: Mit Europa konnte man lange niemanden hinter dem Ofen hervorholen. Aber plötzlich spüren wir: dieses vereinte Europa ist unsere Lebensversicherung.

Wir Deutsche haben dieses Europa vielleicht viel zu lange als eine Selbstverständlichkeit angesehen. Ich spüre das oft, wenn ich mit meinen baltischen Kolleginnen und Kollegen spreche. Wir Deutsche taten ein bisschen so, als sei dieses Europa vom Himmel gefallen. Gerade für jemanden wie mich, 1980 geboren und den Großteil meines Lebens im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen, war dieses friedliche und vereinte Europa einfach total normal. Heute aber sehen wir: Dieses Europa ist eben nicht selbstverständlich – es ist in Gefahr. Und deswegen müssen wir es gemeinsam schützen.

Und dieses Europa umfasst nicht nur die Europäische Union, sondern unsere europäische Friedensordnung. Das, was ab den 1950er, 1960 und 1970er Jahren gebaut wurde – ein gemeinsamer Raum für Sicherheit und Freiheit in ganz Europa. Dieser Raum ist mehr als allein die Europäische Union, dafür stehen gerade auch die mittel- und osteuropäischen Staaten, dazu zählt die Ukraine, als Mitglied des Europarates, als Mitglied der OSZE.

Ich war vor ein paar Wochen in Charkiw, in der Ostukraine, wo die Grenze zu Russland 35 Kilometer entfernt ist. Ich habe dort Schülerinnen getroffen – in einer Wärmestube, weil russische Raketen die Heizkraftwerke der Stadt zerbombt haben und die Menschen in ihren Wohnungen bei -10 und -15 Grad frieren.

Eines der Mädchen, 16 Jahre alt, sagte mir: „Vor dem Krieg habe ich viel Volleyball gespielt mit meinen Freundinnen. Aber jetzt ist meine Sporthalle ein Trümmerfeld.“ Und in diese Sporthalle dürfte sie jetzt ohnehin nicht mehr, auch nicht in ihre Schule. Denn wenn der Luftalarm losheult, dann bleiben den Jugendlichen nur 45 Sekunden.

45 Sekunden um in Deckung zu gehen: unter einem Tisch, wenn man es schafft unter einem Türbogen und wenn man richtig Glück hat in einem Luftschutzkeller. Aber Luftschutzkeller haben Turnhallen und Schulen nicht – und deshalb sind diese Turnhallen und Schulen, wenn sie nicht ohnehin zerstört sind, geschlossen – seit fast einem Jahr. Denn 45 Sekunden dauert es, bis die russischen Raketen in Charkiw einschlagen, wenn sie vom russischen Territorium nebenan abgefeuert werden.

In 45 Sekunden kann man überleben – aber diese Sekunden sind zu wenig für ein normales Leben. Und genau darum geht es, deswegen unterstützen wir die Ukraine seit dem 24. Februar – humanitär mit Generatoren für Wärmestuben, finanziell für die Organisation von Lebensmitteln vor Ort, aber auch mit Waffen. Damit diese Schülerin, diese 16-Jährige irgendwann wieder das tun kann, was ihr größter Wunsch ist: Ganz normal zur Schule zu gehen, Volleyball zu spielen – und nicht nur an 45 Sekunden zu denken.

Meine Damen und Herren,

seit 30 Jahren gehen unsere Kinder in einem wiedervereinigten Deutschland und einem geeinten Europa zur Schule und treffen ganz selbstverständlich ihre Freundinnen und Freunde – ohne über Krieg nachdenken zu müssen. Sie spielen Handball, Volleyball, Fußball – und anders als 1952 sind gerade hier in Baden-Württemberg auch Spiele und Turniere im Nachbarland mittlerweile gar nichts Besonderes mehr.

Und genau deswegen schauen wir so sehr in die Ukraine. Denn dieser Krieg dort darf für uns nicht zur Gewöhnung werden. Nicht etwas, das einfach so mitläuft, wenn wir abends die Nachrichten im Fernsehen schauen oder im Bundestag über Außenpolitik diskutieren. Dieser Krieg darf niemals zur Normalität werden. Deswegen arbeiten wir jeden Tag für Frieden, jeden Tag und jede Nacht. Und solange die Menschen nicht in Frieden leben können, werden wir damit weitermachen – so hart es ist. Denn unsere Sicherheit ist auch die Sicherheit Mittel- und Osteuropas.

Eine der größten Errungenschaften des vereinten Europas und der europäischen Friedensordnung, auf die wir uns in der Schlussakte von Helsinki verständigt hatten, ist die klare Absage an das gewaltsame Verschieben von Grenzen mit Panzern und Bomben. Wenn wir diesen Grundsatz jetzt aufgeben würden – und ich kann verstehen, dass manche sagen: irgendwann muss das Ganze ein Ende haben – ja, es muss ein Ende haben –, wenn wir dieses Ende aber damit erreichen, dass wir von diesem Friedensgrundsatz Abstand nehmen, wenn wir die Annexionen in der Ukraine einfach hinnehmen würden – dann wären wir in Europa, vielleicht auf der ganzen Welt nicht mehr sicher. Denn so gut wie jedes Land auf dieser Welt hat einen größeren Nachbarn. Das, was wir derzeit tun, das tun wir für die europäische Friedensordnung, für die Ukraine, aber auch für die Verteidigung der Charta der Vereinten Nationen.

Weil wir die Meisterinnen unseres Lebens und unserer Zukunft sind, schauen wir daher auf unsere Zeit anders als vor dem 24. Februar. Das heißt nicht, dass wir alle alten Grundsätze über Bord werfen – ganz im Gegenteil. Es gilt jetzt, das zu stärken, was uns immer stark gemacht hat: Die Mitmenschlichkeit, das Hinsehen, die Empathie, das Investieren in nicht nur Militärisches – auch wenn wir jetzt auf harte Art und Weise lernen müssen, dass wir in unsere Wehrhaftigkeit investieren müssen –, die Softpower, der Austausch zwischen Menschen, die Nachhaltigkeit und die Gerechtigkeit.

Deswegen, gerade in diesem Moment, wo wir die NATO stärken und mit Finnland und Schweden zwei weitere Mitglieder aufnehmen, wo wir in unsere eigene Wehrhaftigkeit investieren, schreiben wir als Bundesregierung eine Nationale Sicherheitsstrategie, bei der es um weitaus mehr geht als um militärische Verteidigung. Wenn wir über Sicherheit reden, dann meinen wir damit auch den Schutz unserer Krankenhäuser und Stromleitungen. Denn wir wissen, dass es bei Sicherheit im 21. Jahrhundert um viel mehr geht als nur um Panzer und Raketen – sondern auch um den Schutz unserer kritischen Infrastruktur, um den Schutz unserer Demokratie gegen Desinformation, vor Hass und Hetze.

In einem solchen Verständnis sehen wir unsere Nationale Sicherheitsstrategie als eine Strategie für integrierte Sicherheit. In diesem Sinne stimmen wir uns nicht nur in der Bundesregierung und mit unseren europäischen Partnern und Freunden ab, sondern gerade auch mit den Bundesländern.

Ich wurde heute von einer Journalistin gefragt, wann ich denn das letzte Mal in Baden-Württemberg gewesen sei. Da war meine Antwort: Das kann ich Ihnen genau sagen, das war im letzten Sommer auf meiner Deutschland-Reise für die Nationale Sicherheitsstrategie, in Karlsruhe – um dort mit Bürgerinnen und Bürgern darüber zu sprechen, was Sicherheit eigentlich für sie bedeutet. Für Polizistinnen und Feuerwehrleute, für Schülerinnen und Eltern, für unsere jüdischen Gemeinden, für die Bürgerinnen und den Bürgermeister vor Ort in Karlsruhe.

Und eine Bürgerin dort in Karlsruhe hat es auf den Punkt gebracht, worum es uns heute geht: Sie sagte: Bei der Sicherheit in der Ukraine geht es auch um meine Sicherheit, ich sehe das ja auf meiner Heizkostenabrechnung. Und genau das meinen wir. Zu sehen, dass das, was wir hier tun, was wir hier konsumieren und importieren, von einem Ort kommt – und dass wenn dieser Ort nicht sicher ist, das auch unsere Sicherheit betrifft.

In diesem Verständnis schreiben wir nicht nur die Nationale Sicherheitsstrategie – sondern in diesem Verständnis bauen wir in diesen Tagen, wo unsere Sicherheit so herausgefordert ist, gemeinsam an unserer Europäischen Union. Einer Union, die einmal – davon bin ich fest überzeugt – über 30 Mitglieder haben wird: darunter die Ukraine, Moldau, die Westbalkanstaaten. Einer Union, die dafür das richtige institutionelle Set-Up hat. Und die in der Lage ist, in der Welt für ihre Werte, ihre Interessen und ihre Freiheit einzutreten – gemeinsam mit unseren internationalen Partnern und Freunden.

Und dabei gilt heute wie zu Zeiten von Adenauer und de Gaulle: Eine solche handlungsfähige Europäische Union gibt es nicht ohne die deutsch-französische Freundschaft. In schwierigen Momenten und Krisen der EU waren es immer wieder deutsch-französische Impulse, die Integration vorangetrieben haben – so wie mit dem Elysée-Vertrag, dessen 60. Jahrestag wir gerade in Paris gefeiert haben.

Heute ist es unsere Aufgabe, als Zeugen, als Meisterinnen unserer Zeit, wieder solche mutigen Impulse zu setzen. In einer Union, die viel größer geworden ist, nicht als deutsch-französische Besserwisser. Aber als diejenigen, die als stärkste und größte Mitglieder Verantwortung übernehmen. Das gilt im Kleinen, etwa bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, die Ihr hier in Baden-Württemberg jeden Tag, rund um die Uhr betreibt, wo es ganz selbstverständlich ist, über die Grenze zur Arbeit zu fahren oder dort zu studieren und Freunde zu treffen.

Und es gilt für die großen europäischen Fragen, wie im Vertrag von Aachen angelegt. Es gilt bei der Wettbewerbsfähigkeit der EU, bei verstärkter Zusammenarbeit für Sicherheit und beim geeinten Auftreten der EU in der Welt. 

Und dabei ist klar: In einer Europäischen Union mit über 30 Mitgliedern werden wir sicher nicht die Meisterinnen unserer Zukunft sein, wenn es uns nicht gelingt, wichtige Entscheidungen auch einmal schnell zu treffen. Wir haben in den vergangenen Monaten immer wieder gesehen, wie im Rat einzelne Mitgliedsstaaten eine starke gemeinsame europäische Haltung verhindert haben – etwa bei Menschenrechtsfragen.

Ich glaube, das können wir uns nicht länger leisten. Auch das ist für mich die Zeitenwende. Deshalb setzen wir uns als Bundesregierung dafür ein, dass wir in der EU mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit treffen können, gerade jetzt, gerade in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Und das heißt natürlich auch, dass wir als Deutschland dann im Rat überstimmt werden können. Das passiert schon heute bei Themen, in denen mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird – zuletzt war das im Dezember bei einer Abstimmung zur nachhaltigen Verwendung von Pflanzenschutzmitteln der Fall. Das fanden wir nicht schön, wir hatten da als deutsche Bundesregierung eine andere Meinung. Niemand lässt sich gerne überstimmen – aber manchmal ist das notwendig, um voranzukommen – das auch als kleiner Hinweis an den Bundesrat.

Und sich da in kleinere Länder hineinzuversetzen ist der entscheidende Punkt um voranzukommen. Denn natürlich sagen ganz viele kleinere Länder: Annalena, als deutsche Außenministerin kannst Du das leicht sagen – aber das nächste Mal macht ihr dann Druck und dann passiert das nicht mehr – so viel Realpolitik steckt dann auch immer mit dahinter. Das heißt: Wenn wir andere davon überzeugen wollen, dass das jetzt der richtige Weg ist, der in unser aller Interesse liegt, dann ist es wichtig, dass wir Vertrauen schaffen. Dass wir gerade in diesen Zeiten als Deutsche die Interessen und die Sorgen der anderen mitdenken.

Deswegen möchte ich heute hier einen Vorschlag machen, wie wir auf diesem Weg Schritt für Schritt und nicht mit der Brechstange – weil wir Deutschen das so wollen – vorankommen. Sondern wie wir die europäischen Verträge – für unser aller Sicherheit und außenpolitischer Interessen – besser nutzen können.

Ein Beispiel: Vor kurzem haben wir im Rat die EU-Ausbildungsmission für ukrainische Soldatinnen und Soldaten beschlossen – mit einer Entscheidung, die eigentlich Einstimmigkeit erfordert hat. Das wäre in der Vergangenheit nicht passiert – aber angesichts dessen, wie dringend notwendig das ist, haben wir den Weg gewählt, dass man sich „konstruktiv enthält“. Dass die Ungarn, die eigentlich dagegen waren, nicht Entscheidungen der EU blockiert haben, sondern sich „konstruktiv enthalten“ haben.

Eine solche pragmatische Lösung brauchen wir auch in anderen Fragen – etwa in Menschenrechtsfragen – oder wir nutzen die Passerelle-Klausel, die in den EU-Verträgen bereits verankert ist – und mit der wir Mehrheitsentscheidungen in einzelnen Politikbereichen beschließen könnten, zum Beispiel für die Menschenrechtspolitik oder für die größte Sicherheitsaufgabe unserer Zeit: die Klimaaußenpolitik.

Ich weiß: Das klingt jetzt alles etwas technisch. Und manche fragen sich vielleicht: Was ist das jetzt für ein Brüsseler Gedöns. Aber ich glaube, das Entscheidende in dieser Phase ist zu verstehen, dass es Momente gibt, in denen man die Zeit nicht an sich vorbeilaufen lassen kann. Denn Europa ist immer in Wellen gewachsen, Europa ist immer dann stark gewesen, wenn wir besonders herausgefordert waren. Und genau deswegen ist aus meiner Sicht jetzt der Moment, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union zu stärken.

Vor rund 20 Jahren, in der ersten Stuttgarter Rede zu Europa, hat Valéry Giscard d‘Estaing damals auch eine technische Neuerung gefordert, einen diplomatischen Dienst der Europäischen Union. Damals war das eine Ungeheuerlichkeit. Um Gottes Willen – etwa keine deutschen Botschaften mehr, jetzt soll die EU Diplomatie für alle Mitgliedsstaaten machen? Aber heute ist das Realität und eine Selbstverständlichkeit, und gerade für meine außenpolitische Arbeit eine absolute Bereicherung. Heute vertritt der Europäische Auswärtigen Dienst die Europäische Union in der ganzen Welt.

Und wenn uns das vor 20 Jahren gelungen ist, warum soll uns das nicht heute mit den Mehrheitsentscheidungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik auch gelingen? Das Entscheidende ist, dass wir uns jetzt an die Arbeit machen.

Das gilt auch für die wirtschaftliche und technologische Souveränität Europas. Das gilt für das Thema, das für Eure baden-württembergische Politik so zentral ist: Innovationskraft und Unternehmergeist in die Welt zu bringen – und die Welt nach Baden-Württemberg zu bringen.

Wir haben über Russlands Krieg viel und intensiv diskutiert im letzten Jahr. Wir haben daraus Lehren gezogen – und das haben der Ministerpräsident und ich vorhin gemeinsam mit einigen Wirtschaftsvertretern aus Baden-Württemberg diskutiert – und überlegt, was das für die Zukunft bedeutet.

Es bedeutet, dass wenn die Welt sich ändert, wir auch mit Blick auf unsere Wirtschaftspolitik Dinge anders machen müssen. Sonst riskieren wir, dass irgendwann andere die Meister über unser Leben und unsere Zukunft sind.

Denn wir leben heute in einer Welt, in der es aggressive Autokratien gibt, die mit Panzern und Bomben das Recht des Stärkeren durchdrücken wollen. Und auf der anderen Seite sehen wir, wie viele Staaten auf der Welt zum Völkerrecht, zu einer fairen Wirtschaftsordnung stehen. Und ich erlebe weltweit, dass das nicht nur die typischen westlichen Demokratien sind. Wenn wir uns die Abstimmung vor knapp einem Jahr in der Generalversammlung anschauen, dann sehen wir über 140 Staaten. Das sind nicht nur demokratische Länder. Sondern es sind die Länder, die gemeinsam sagen: internationales Recht, faire Verträge schützen uns alle.

Eine Antwort auf eine solche Welt ist eine souveräne Europäische Union, die in ihre eigene Stärke investiert, ihre Abhängigkeiten verringert und vor allen Dinge bereit ist für neue Partnerschaften mit diesen über 140 Ländern. Europäische Souveränität mit einer starken Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet für mich: Jetzt erst recht Kooperation, überall wo möglich. Aber zugleich nicht naiv zu sein – und Eigenständigkeit als Europäer wo nötig. Das ist strategische Souveränität Europas. Das ist internationale Stärke, das ist internationale Zusammenarbeit.

Denn wir alle haben die fatalen Folgen gesehen, als wir uns über Jahrzehnte abhängig gemacht haben von Energie aus Russland und allein auf das Prinzip Hoffnung gesetzt haben. Wir haben gesehen, was passieren kann, wenn unsere Unternehmen ihre Lieferketten oder ihr ganzes Geschäftsmodell zu stark auf Staaten ausrichten, die unsere Werte nicht teilen. Und die Lehre daraus sollte nicht sein, mit dem Finger darauf zu zeigen, wer wann wie Schuld war – oder wer wann wie Recht hatte. Sondern einfach nur dafür zu sorgen, dass uns so etwas nicht nochmal passiert.

Klar ist: Die kurzfristigen Profitinteressen einzelner Großunternehmen können berechtigt sein, aber sie entsprechen nicht unbedingt den langfristigen volkswirtschaftlichen Gesamtinteressen eines Landes. Daher ist es unsere Aufgabe als Bundesregierung, diese Gesamtinteressen – gemeinsam von den Kommunen über die Länder bis zum Bund und in der gesamten Europäischen Union – im Blick zu haben.  

Deshalb ist es aus meiner Sicht ein Risiko, wenn einzelne große Unternehmen so stark vom chinesischen Absatzmarkt abhängig sind, dass sie handlungsunfähig würden, wenn er wegbräche. Wenn einzelne Unternehmen Klumpenrisiken bewusst in Kauf nehmen, dann ist das nicht im gesamtvolkswirtschaftlichen Interesse. Oder wenn wir von Vorprodukten und Rohstoffen so abhängig sind, dass wir unsere erneuerbaren Energien nicht mehr selbst bauen können.  

Das heißt aber nicht, dass wir uns Entkoppeln müssen – erst recht nicht von China, einer der größten Volkswirtschaften weltweit. Das funktioniert nicht in einer vernetzten Weltwirtschaft. Und es wäre das Gegenteil von integrierter Sicherheit. Weil wir ohne China – das haben wir in der Pandemie gesehen – in manchen Bereichen gar nicht handlungsfähig sind oder die Klimakrise in den Griff bekommen können.

Sondern unsere Antwort muss sein – und das machen viele Unternehmen gerade hier in Baden-Württemberg als Mittelständler und Hidden Champions – einseitige und riskante Abhängigkeiten zu reduzieren und gemeinsam zu diversifizieren. Je breiter sich die europäische Wirtschaft aufstellt, desto stabiler ist sie.

Diesen Ansatz verfolgen wir nicht nur als Bundesregierung, sondern natürlich auch gemeinsam als Europäische Union: Wir arbeiten daher in diesen Zeiten mit Blick auf grüne Transformation und wirtschaftliche Zusammenarbeit eng mit Ländern in Lateinamerika, Afrika, dem Nahen Osten und Asien zusammen, um für neue Partnerschaften zu sorgen. Partnerschaften, die Klima und Umwelt schützen und die Staaten nicht in Abhängigkeiten und Überschuldung locken. Deshalb verhandeln wir als EU nachhaltige Handelsabkommen – und investieren in Infrastrukturinitiativen wie Global Gateway.

Solche Partnerschaften kann aber keine Bundesregierung und auch kein Europa allein bauen. Für solche Partnerschaften braucht es Unternehmen aus den Regionen und aus den Bundesländern. Unternehmen wie Ihre hier in Baden-Württemberg, die weltweit Standards setzen, die weltweit Technologieführerschaft erreicht haben, die weltweit Zugänge schon geschaffen haben.

Nur wenn wir gemeinsam unsere Sicherheit bauen – über die Kommunen, die Hochschulen, die Fußballplätze, über die Länder, den Bund und Europa – können wir auch dauerhaft für Frieden sorgen.

Genau so wie vor 70 Jahren, beim ersten Aufeinandertreffen der jungen Kicker der Sportvereinigung 07 Ludwigsburg und des FC Sochaux aus Frankreich. Als man nicht gefragt hat, als Vater, als Fußballspieler, als Jugendlicher: Was machen eigentlich die anderen? Als man sich entschieden hat: Ich mache das jetzt, ich packe das jetzt an.

Damals schrieb die Ludwigsburger Kreis-Zeitung, am 27. Dezember 1952, dem Tag der Abreise der französischen Fußballer aus Ludwigsburg: „Wenn sie heute früh wieder von unserer Stadt scheiden, dann dürften hüben und drüben viele Vorurteile beseitigt sein.“

Das ist Außenpolitik – Vorurteile zu überwinden, im Kleinen, um damit einen Beitrag für das Große zu leisten. Darum geht es auch heute: Dass wir uns jeden Tag fragen: Was können wir tun, was ist unser Beitrag – um Vorurteile zu überwinden, um diesen Krieg hinter uns zu lassen.  

Ich weiß nicht, wie schnell es geht – aber wir arbeiten jeden Tag am Frieden. An einem gerechten Frieden, an einem Frieden der ermöglicht, dass auch 16-Jährige in der Ukraine wieder Volleyball spielen können. An einem Frieden, der derzeit benötigt, dass wir nicht nur auf Applaus setzen, sondern auch Gegenwind in Kauf nehmen.

Weil wir die Zeugen unserer eigenen Zeit sind. Weil wir daran arbeiten, dass wir die Meisterinnen unserer Zukunft werden.

Weil wir nichts Anderes wollen, als dass die 16-Jährige in Charkiw beim nächsten Mal, wenn es um 45 Sekunden geht, nicht an einen Bunker denkt – sondern daran, dass das vielleicht die Pause in ihrem Volleyballspiel ist.

Wir sind die Meisterinnen unseres Lebens, unserer Zukunft und unseres Europas – auch heute.

Herzlichen Dank.

 

Zurück